Flechten leuchten in den schönsten Farben.

Bei einem Ausflug in den Bergen auf fast 1800 Höhenmeter fallen mir unendlich viele Flechten auf, die sich auf den unterschiedlichsten Felsformationen angesiedelt haben. Es ist eine karge Landschaft geprägt von Wasser, Steinen und Schnee. Selbst im Spätsommer hat es nur 12 Grad Celsius. Die Flechten allerdings leuchten in lindgrün und bilden einen Kontrast zu der sonst so spartanischen Landschaft.

Ich musste an David G. Haskell denken und die Beschreibung von Flechten in seinem Buch «Das verborgene Leben des Waldes».

Flechten bedecken rund 10 Prozent der Landfläche unseres Planeten. Besonders in waldlosen Zonen, wo es zumeist Winter ist, sind sie geradezu übermächtig. Hinter dieser erfolgreichen Besiedlung steckt ein kleines Märchen.

Flechten besitzen ein komplexes Innenleben

Flechten sind eigentlich eine Verbindung von Pilzen mit Algen oder Bakterien. Es kommt zur gegenseitigen Abhängigkeit, die beiden Körper sind miteinander verschmolzen.

«Der Pilz breitet seine Fäden auf dem Untergrund aus und bereitet so die Lagerstatt vor. Alge oder Bakterie nisten sich in seinen Fäden ein und bilden mithilfe von Sonnenenergie Zucker und andere nahrhafte Moleküle. Doch wie in jeder Ehe verändert das Zusammenleben die Partner: Der Pilz macht sich breit und erhält eine baumblattähnliche Struktur, mit schützender oberer Kruste, einer Schicht für lichtsammelnde Algen und winzigen Atemporen. Der Algenpartner verliert dagegen seine Zellwand, überlässt es ganz dem Pilz, ihn zu beschützen, und gibt alle sexuelle Aktivitäten zugunsten des zügigen, aber genetisch wenig aufregenden Selbstklonens auf.» (David G. Haskell, Das verborgene Leben des Waldes. Ein Jahr Naturbeobachtung, 2015, S. 17 und folgende)

Baumgesellschaft-Baumblog-Beitrag-Flechten
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Verzicht bringt etwas Neues zum Vorschein

Erst in ihrer neuen Verbindung werden sie etwas, was sie alleine nicht sein können. Die Alge mit dem Pilz verwoben kann in mehr Lebensräumen leben und der Pilz wächst förmiger und besser. Sie haben ihre Individualität abgestreift und konnten so die Welt erobern.

Wie in jeder Beziehung muss man Kompromisse eingehen und zurückstecken, aber erst eine Verbindung aus zwei Lebewesen ist in der Lage, etwas völlig Neues und Wegweisendes zu schaffen. Am Schluss zählt man als Ganzes, manchmal bekommt der eine mehr, mal der andere – das ist dann aber nicht mehr wichtig.

Gerade musste ich an die erste Flechte mit ihrer mutigen Alge und dem innovativen Pilz denken. Wenn die wüssten, was sie mit ihrer Verschmelzung alles erreicht haben. Aber die Alge hatte es wahrscheinlich schon geahnt, denn in ihr steckt eine noch ältere Lebensgemeinschaft … aber das ist ein anderes Märchen.